May 30, 2022

Plötzlich diese Klarheit!

Über sieben Jahre lang verstaubte «The Moment of Clarity» im Bücherregal von Festland. Bis wir die Klarheit zu unserem Purpose gemacht haben. Frisch entdeckt, haben wir das Buch endlich in die Hand genommen und gelesen – und mehr als einen Moment der Klarheit gefunden.

«Now I see it!» Das ist der Schlüsselsatz im 2014 erschienen Harvard-Bestsellers The Moment of Clarity von Christian Madsbjerg und Mikkel Rasmussen. Das Buch verspricht nicht weniger als eine Revolution in der Entwicklung von Strategien – ein radikales Umdenken, dank welchem sich globale Topmarken wie Lego, Samsung oder Adidas erfolgreich neu positionieren konnten.

Wie kommt es, dass viele strategische Pläne in der Realität scheitern, obschon die Zahlen dahinter korrekt waren? Den Grund orten die Autoren in falschen, oft unbewussten Annahmen, auf denen Fakten und Entscheide beruhen. Wir glauben zwar, eine Strategie zu 100% rational erklären zu können, blenden aber aus, dass ihre Entwicklung von Hypothesen geprägt ist, die auf Annahmen statt auf der Wirklichkeit basieren. Aus demselben Grund sind auch User*innen-Umfragen weniger aussagekräftig, als wir glauben. In deren Fragen und Antworten schlummern ebenfalls oft Vorurteile.

Sensemaking statt Default Thinking

Die Autoren nennen die herkömmliche, auf Hypothesen basierende Form der Problemlösung «Default Thinking». Dieses Denken ist kein Problem, wenn sich die Welt nicht ändert und genug Erfahrungswerte bestehen. Häufig bewegen wir uns aber in einem Marktumfeld, das von Unsicherheit geprägt ist. In dieser Situation – die Autoren sprechen vom Navigieren im Nebel – ist eine neue Art der Strategiefindung gefragt: das Sensemaking.

Die Tabelle zeigt, worin sich Default Thinking und Sensemaking unterscheiden.

Von der Ethnologie zur Lego-Strategie

Wie aber gelingt das Navigieren im Nebel? Indem wir uns nicht auf Mathematik, Statistik und Ökonomie verlassen. Die Autoren lassen sich von Ethnologie, Psychologie und anderen Human Sciences inspirieren und gliedern den Sensemaking-Prozess in fünf Schritte.

Schritt 1: Benenne das Phänomen

Welches Phänomen steckt hinter deinem Problem? Wie entscheidend diese Frage ist, illustriert das Buch am Beispiel der Lego-Strategie. Das Default Thinking basierte bei Lego auf zwei Annahmen: Kinder haben weniger Zeit zum Spielen als früher. Und ihre Aufmerksamkeitsspanne ist so klein, dass sie eine sofortige Belohnung brauchen. Um echtes Sensemaking zu ermöglichen, löste sich Lego von diesen Vorurteilen und formulierte das Phänomen offener: Welche Rolle spielt das Spielen im Leben?

Schritt 2: Sammle die Daten

Offen wie die Forschungsfrage muss auch das Erkunden der Wirklichkeit sein. Statt die Menschen ins Labor zu holen, müssen die Strateg*innen in die Welt und zu den Menschen gehen. Genau das hat Lego getan: Mit den Werkzeugen der Ethnografie in der Hand, hat der Spielzeughersteller weltweit Familien besucht, ihre Kinderzimmer angeschaut, Geschichten aufgeschrieben und Fototagebücher erstellt. Sie sind also dem Sinn des Spielens ohne Filter und Vorurteile auf den Grund gegangen.

Schritt 3: Suche die Muster

Die Kunst des Sensemaking besteht darin, in den vielen gesammelten Materialien die Verbindungen und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Bei Lego bildeten sich vier relevante Muster heraus. Erstens: Kinder leben in einer Bubble der Planung und Kontrolle – Stichwort Helikoptereltern. Zweitens: Kinder spielen, um Rangordnungen zu bilden. Drittens: Kinder wissen, dass Übung die Meisterin und den Meister macht. Viertens: Kinder lieben Lego am meisten, wenn auch ihre Eltern schon Lego liebten.

Schritt 4: Kreiere die Insights

Je deutlicher die Muster, desto direkter der Lösungsweg. Für Lego führte dieser Weg zur strategischen Entscheidung, nicht länger der Reizüberflutung der digitalen Game-Welt nachzueifern, sondern sich wieder auf die eigenen Stärken zu besinnen. «Wir machen Lego für Menschen, die Lego mögen.» Die Produkterfolge, die aus diesem Leitmotiv entstanden und der damals angeschlagenen Marke zu neuem Wachstum verhalfen, begeistern Kinder wie Erwachsene rund um den Globus. Aus dem Sensemaking-Prozess folgten auch ganz konkrete Marketing-Features: Zum Beispiel basiert das Lego Clubhouse in den Stores, wo erfahrene Kinder ihr Know-how an Anfänger*innen weitergeben, auf der Erkenntnis, dass das Bilden von Rangordnungen eine wichtige Rolle des Spielens ist.

Schritt 5: Entfalte die Wirkung

Im fünften Schritt geht es darum, kurzfristige Effekte und nachhaltiges Wachstum zu unterscheiden. Hier bekommt das Sensemaking seine tiefere Bedeutung. Die entscheidende Frage ist nicht, ob man dank der Strategie mehr Geld machen kann, sondern ob sie auf die Mission der Marke einzahlt. Neudeutsch würde man sagen: auf den Purpose.

Den Mehrwert des Sensemaking bringt das Buch mit einer griffigen Metapher auf den Punkt: Eine Strategie, die auf falschen Hypothesen statt auf realen Erfahrungen fusst und die keinen nachhaltigen Sinn stiftet, ist wie eine Stahlkathedrale, die auf Treibsand gebaut wurde.

Kreative Arbeit statt Ideen-Hiphop

Vom Festland aus betrachtet, ist ein vertiefender Teil des Buches besonders erhellend, nämlich die Gedanken zur Kreativität

Ob Ideen-Rap, Bodystorming oder den inneren Elvis entdecken: Die Erfahrungen der Autoren mit Innovations- und Kreativ-Workshops sind fast schon ein «Moment of Comedy». Sie plädieren stark dafür, sich von den gängigen Klischees über kreative Prozesse zu lösen, wie etwa, dass Kreativität nur Spiel und Spass sei oder dass Ideen wie von Zauberhand aus dem Nichts entstehen.

Echte Kreativität, die vor allem beim Erkennen von Mustern gefragt ist, ist kein Hokuspokus. Neben dem richtigen Vorgehen braucht es viel Know-how und Arbeit, damit im Datennebel die langsame Ahnung (slow hunch) entsteht, wie sich eine komplexe Realität in eine fokussierte Strategie verwandeln lässt.

Und plötzlich ist er da, der Moment der Klarheit.

Der Himmel über dem Val Ferret

Ein Buch voller Klarheit liest man am besten mit Sonnenbrille. Genau das hat unser Stratege Marco getan, an einem strahlenden Wintertag in den Walliser Bergen. Beim Lesen auf der Holzbank vor dem Kirchlein im Val Ferret entdeckte er auch seine Lieblingsstelle: den Vergleich zwischen dem Moment der Klarheit und dem Filmtitel «In weiter Ferne, so nah», der Fortsetzung von Wim Wenders' «Himmel über Berlin».